Achtsamkeit in Unternehmen sei eine versteckte Strategie, um noch mehr Leistung aus Mitarbeitern herauszupressen. Immer häufiger hört man in letzter Zeit diese Kritik. Doch ist es wirklich möglich, Menschen durch Achtsamkeit auszubeuten? Auf Organisationen, die das glauben, wartet eine interessante Überraschung.

Gemischte Gefühle zu Achtsamkeit in Unternehmen

Nach zahllosen mehr oder weniger erfolgreichen Projekten zur Förderung der Mitarbeitergesundheit hat man in Unternehmen nun die Praxis der Achtsamkeit am Wickel. Während man im Management dem Projekt Achtsamkeit hoffnungsfroh entgegensieht, wittern die Mitarbeiter ein neues Instrument zur weiteren Steigerung ihrer Produktivität. Sie sehen dem Ganzen eher mit Skepsis entgegen.

Soll die Verantwortung für Stress, Überforderung und Hektik nun vollends auf den Einzelnen abgewälzt werden? Will sich das Unternehmen mit Hilfe der Achtsamkeitspraxis aus der Verantwortung ziehen? Besteht die Absicht darin, auch noch das Letzte aus den tiefenerschöpften Arbeitnehmern herauszupressen? Viele Mitarbeiter und Achtsamkeitstrainerinnen befürchten das.

Fördert Achtsamkeit die Ausbeutung von Arbeitnehmern?

In einem Artikel auf Zeit online war zu dieser Frage jüngst zu lesen: “Wenn nun der größte Verursacher eines gehetzten Lebens, der Arbeitgeber, Kurse zur Stressbewältigung anbietet, dann macht er das möglicherweise nicht nur, damit es seinen Beschäftigten besser geht.”

Und auch der Soziologe Hartmut Rosa formulierte am Rande einer Konferenz zum Thema Achtsamkeit und Selbstbezogenheit: “Gerade im Kontext von Unternehmen ist zu vermuten, dass Achtsamkeit ein zerstörerisches System stützt.”

Es wird befürchtet, dass Arbeitgeber die Widerstandsfähigkeit ihrer Mitarbeiter stärken wollen, um deren Resilienz gegen krankmachende Arbeitsbedingungen zu erhöhen. Der Einzelne soll zusehen, wie er mit den Auswirkungen der Arbeitsbedingungen zurecht kommt, die vom Unternehmen zu vertreten sind.

Achtsamkeit in Unternehmen mit achtsamen Führungskräften

Achtsame Führungskräfte bringen Gelassenheit, Klarheit und Innovation ins Unternehmen.

Achtsamkeit in Unternehmen ist ein vielfach falsch verstandenes Konzept

Bevor man sich mit der Frage beschäftigt, ob Unternehmen wirklich solche unheiligen Absichten hegen, sollte man sich die Kritik selbst einmal anschauen. Denn viel zu oft basiert diese auf einem falschen Verständnis der Achtsamkeitspraxis. Und wer die falschen Fragen stellt, muss sich nicht wundern, wenn er Antworten bekommt, die an der Realität vorbeigehen.

Nicht jeder, der sich berufen fühlt, über Achtsamkeit zu schreiben und waghalsige Thesen aufzustellen, verfügt über das nötige Wissen und entsprechende eigene Erfahrungen. Das kann zu Verwirrungen und falschen Schlüssen führen.

Wenn die Achtsamkeitspraxis mit “positivem Denken” verwechselt wird

So schreibt zum Beispiel der Soziologe Rosa: “Die Achtsamkeitsbewegung ist viel zu fixiert auf das Subjekt: ‘Wenn du nur innere Ruhe findest, Anhaftung überwindest, allem achtsam begegnest, wird alles gut.'” Hier zeigt sich ein völlig falsches Verständnis von Achtsamkeit. In der Achtsamkeitspraxis geht es darum, mit vorurteilsfreiem Gewahrsein zu bemerken was geschieht, während es geschieht.

Das schließt auch eigene unangenehme Empfindungen ein, und die Wahrnehmung als solches macht weder diese Empfindungen noch die Situation besser oder schlechter. Die Achtsamkeitspraxis bewahrt durch die Fähigkeit zur Selbstregulation lediglich vor unbewusst-automatischen Reaktionen.

Durch die innere Distanz zum Geschehen wird ein Raum geschaffen, in welchem selbstbestimmte Entscheidungen getroffen werden können, wie man mit einem Geschehen umgehen möchte. Von Schönreden oder Verdrängen nicht die Spur.

Wenn Nicht-Fachleute Achtsamkeit in Unternehmen verunglimpfen

Hier sind zwei weitere unglückliche Beispiele für Aussagen, die zeigen, wie die Unwissenheit einzelner Verwirrung über den Wert von Achtsamkeit in Unternehmen stiften kann:

“Wo die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Achtsamkeit geschult werden, gibt es somit schnell die perfekte Legitimation, die Anforderung hochzuschrauben, die Schlagzahl aufzustocken, die Zielvorgaben zu erhöhen.”

“Achtsamkeit ist damit entgegen dem Klischee keineswegs das große Besänftigungsmittel des Arbeitslebens. Sondern mitunter eines, das auch die schlimmen Dinge mit einer Weihe ausstattet, die jedes Hinterfragen verbietet. Von einer Managerin entlassen zu werden, die vorher meditiert hat und die Worte in aller Ruhe ausspricht, ist am Ende vielleicht die furchtbarste aller Kündigungen.”

Achtsamkeit bringt mehr Mitgefühl ins Unternehmen

Ein wesentlicher Bestandteil der Achtsamkeitspraxis ist Mitgefühl. Es gibt keine Achtsamkeit ohne Mitgefühl. Deshalb kann einem Mitarbeiter, der gekündigt wird, gar nichts besseres passieren, als dass die Managerin zuvor meditiert hat.

Das bedeutet nämlich nicht, dass die Meditation sie so weichgespült hat, dass sie nicht mehr imstande ist, ihren Job auszuführen. Aber sie wird aufrichtig mitfühlend in der Überbringung dieser schmerzhaften Botschaft sein. Und das kann solch einer Situation durchaus ein wenig Härte nehmen.

Über Dinge wird viel diskutiert. Je größer die Unwissenheit, desto größer die Diskussion.

Was interessiert Unternehmen an Achtsamkeit?

Kommen wir zurück zur Motivation der Organisationen. Wieso eigentlich diese Aufregung, wenn Unternehmen in Achtsamkeit eine neue Möglichkeit sehen, mehr aus ihren Mitarbeitern herauszuholen?

Ein Wirtschaftsbetrieb ist nicht die Heilsarmee. Effizienz, Kostenreduktion und Gewinnmaximierung sind überlebenswichtig für Unternehmen – die ja den Arbeitnehmern überhaupt erst Lohn und Brot geben. An der Verfolgung dieser Ziele ist zunächst einmal nichts Verwerfliches. Auch nicht an der Idee, Achtsamkeit ins Haus zu holen, um diese unternehmerischen Ziele zu unterstützen.

Jahresurlaub ein Instrument der Arbeitnehmerausbeutung?

Gemäß der Logik dieser Kritik, müsste auch der Jahresurlaub suspekt sein. Ist er vielleicht auch ein heimliches Instrument der Arbeitgeber zur Leistungssteigerung ihres “Humankapitals”?

Man sollte sich davor bewahren, ebenfalls ins Horn der verbreiteten Polemik zu blasen und Unternehmen per se das Schlechteste zu unterstellen. Nach meiner Erfahrung arbeiten die meisten Organisationen, die Trainigs anbieten, um die Umstände erträglicher zu machen, gleichzeitig an den Umständen selbst.

Achtsamkeit in Unternehmen ist kein sozialromantisches Schmuseprojekt

Ein weiteres Problem, warum die Einführung von Achtsamkeit in den Arbeitsalltag in die Kritik geraten ist, hat mit Kommunikation und Vorgehensweisen zu tun. Es ist nämlich nicht egal, mit welchen Worten und auf welche Weise Achtsamkeit ins Unternehmen eingeführt wird.

Arbeitnehmer haben ein feines und unbestechliches Gefühl dafür, wann man ihnen ein “Trojanisches Pferd” unterschieben möchte. Am besten ist es deshalb, authentisch zu sein und das Kind von vornherein beim Namen zu nennen. Ein Unternehmen muss sich nicht dafür schämen, wenn handfeste Wirtschaftsinteressen hinter seinen Angeboten für die Mitarbeiter stehen.

Win-Win ist immer gut für alle

Ob eine Unternehmensführung aus Mitgefühl oder aus strategischen Überlegungen an Achtsamkeit interessiert ist, ist nicht ausschlaggebend. Wichtiger ist, wie das kommuniziert wird, damit die Einführung von Achtsamkeit im Job nicht zu einem Trojanischen Pferd wird.

Am besten wären natürlich Mindful Leader, denen das Wohl der Mitarbeiter und der Unternehmenserfolg gleichermaßen am Herzen liegen würden. Das kommt vor, ist aber leider nicht der Standard.

Doch auch wenn die Motivation der Firmenleitung nicht von ethischen Beweggründen gespeist wird, kann auf die Win-Win-Situation hingewiesen werden: Gut für das Unternehmen – gut für die Mitarbeiter. Also am Ende: gut für alle!

Eine wirtschaftliche Intention mindert nicht die Wirkungsweise von Achtsamkeit

Kürzlich las ich in einem Artikel über Mindful Leadership diesen Satz: “Welche langfristigen positiven Auswirkungen ein Achtsamkeitstraining auf Mitarbeiter und Unternehmen haben wird, hängt u. a. auch davon ab, mit welcher Absicht dieses Training eingeführt wurde.”

Mit dieser Aussage soll zum Ausdruck gebracht werden, dass sich Achtsamkeit in einem Unternehmen als unwirksam erweist, wenn die dahinter stehende Motivation nicht auf ethischen, sondern monetären Absichten basiert.

Nach meiner Erfahrung ist das nicht so. Eine Aussage des buddhistischen Lehrers Thích Nhất Hạnh erklärt, warum:

Achtsamkeit verändert alles, was sie berührt.

Achtsamkeit wirkt. Die Auswirkungen auf geistige Ruhe und Klarheit sind wissenschaftlich hinreichend belegt. Wer ein achtsames Gehirn trainiert, ist weniger reaktiv, vertrauter mit seinen inneren Mustern und automatischen Verhaltensweisen. Er hat ein sensibles Gespür für seine Grenzen und für das, was ihm gut tut. Und für das, was ihm nicht gut gut.

Achtsamkeit in Unternehmen bringt starke Mitarbeiter hervor

Achtsamkeit in Unternehmen bringt selbstbewusste Mitarbeiter hervor.

Achtsamkeit in Unternehmen bringt starke Mitarbeiter hervor

Insgesamt macht ihn das selbstbestimmter und dadurch weniger manipulierbar. Mitarbeiter werden stressresistenter, angstfreier und fühlen sich Belastungen besser gewachsen. Auch den Belastungen, die ein Arbeitsplatzwechsel nach sich ziehen würde …

Überraschende Resultate von Achtsamkeit am Arbeitsplatz

Ich möchte das am Beispiel einer Führungskraft verdeutlichen, die ich hier Max nenne. Max, Führungskraft in einem IT-Unternehmen, nahm an einem 10-wöchigen Achtsamkeitskurs teil, den sein Unternehmen im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements anbot.

Max kam im wahrsten Sinne des Wortes wieder zur Besinnung. Als Folge davon spürte er erstmals die enorme Überlastung, die sein derzeitiger Job mit sich brachte. Der innere Abstand zum Geschehen führte zu einer harten Erkenntnis: Er sah keinen Sinn in seiner Tätigkeit und führte dort täglich etwas aus, das seinen wirklichen Neigungen gar nicht entsprach.

Jahrelang hatte er nur funktioniert; er bezeichnete sich selbst als “Bioroboter”. Durch die Meditations- und Achtsamkeitspraxis kam ihm zu Bewusstsein, wie unglücklich er eigentlich war und dass er diesen Job nur machte, um seine Familie ernähren zu können.

Max erwog, zu kündigen und sich beruflich umzuorientieren. Zuvor führte er jedoch ein Gespräch mit seinem Vorgesetzten. Es stellte sich heraus, dass man ihm im Unternehmen einen anderen Arbeitsplatz anbieten konnte, der seinen Neigungen mehr entsprach und keine 20 Überstunden in der Woche erforderte.

In diesem Fall blieb dem Unternehmen eine hochqualifizierte Arbeitskraft erhalten. Ich habe jedoch schon viele Fälle erlebt, in denen Mitarbeiter gekündigt haben. Das war nicht, was die Unternehmen mit der Einführung von Achtsamkeit erwartet hatten.

Einsicht und Mitgefühl, die Geschenke der Achtsamkeitspraxis

Unternehmen, die Achtsamkeit instrumentalisieren wollen, um ihre Mitarbeiter besser ausbeuten zu können, werden am Ende scheitern. Weil Achtsamkeit Bewusstsein schafft. In diesem Zusammenhang ist es interessant einmal auf die buddhistische Wurzel der Achtsamkeitspraxis zu schauen. Die Wurzel heißt in der altindischen Sprache Pali Vipassana, was so viel wie Einsicht bedeutet.

Es geht um Einsicht in die eigene innere Natur, in unbewusste Denk- und Fühlmuster und Verhaltensweisen. Wer Achtsamkeit praktiziert, wacht auf, wird stark, klar und mutig. Für Unternehmen, die sich solche Mitarbeiter wünschen, ist die Achtsamkeitspraxis ein Gewinn. Für alle anderen dürfte es eher eine Faust’sche Erfahrung werden.

Achtsamkeit im Unternehmen auf der Basis der buddhistischen Tradition

Achtsamkeit verändert alles, was sie berührt.

Die Profanisierung der Achtsamkeit

Entkräften wir auch noch eine letzte Befürchtung. Sie kommt aus den Reihen der Achtsamkeit Praktizierenden. Die kennen zwar die Achtsamkeitspraxis – aber sie wissen nicht, wie sie sich im Kontext der Arbeitswelt auswirkt.

Wer Achtsamkeit innig praktiziert, dem erschließt sich auch ihr spiritueller Wert. In ihrer Tiefe haben die Erfahrungen der Achtsamkeitspraxis durchaus etwas, das an religiöse Erfahrungen erinnert. Es ist ganz natürlich, dass diejenigen, die das erlebt haben, um den Wert dieser Jahrtausende alten Weisheitspraxis besorgt sind.

Wenn eine alte Tradition zu einem modernen McMindfulness wird

Aus ihrer Sicht bemächtigt sich die Arbeitswelt einer alten fernöstlichen Meditationstradition und entzaubert sie durch Säkularisierung. Dann macht sie ein McMindfulness zur praktisch anwendbaren Selbstoptimierung fernab jeglichen höheren Erkenntnisstrebens daraus. Der Gedanke hat schon etwas Schmerzliches.

Dennoch gibt es auch hier keinen Grund zur Panik. Meine Erfahrung zeigt, dass wir der Weisheit vertrauen können, die der Achtsamkeitspraxis innewohnt. Weil diese Praxis auf eine wundervolle Weise alles verändert, was sie berührt.

Wenn jemand durch Achtsamkeit inspiriert ist, mit Meditation und Introspektion zu beginnen, wenn er vertiefende Literatur liest und Retreats besucht, wird sich ihm das Mysterium der Achtsamkeit erschließen – ob sie nun profanisiert vermittelt wurde oder nicht. Der heilige Lotus mit seinen wundervollen Blüten, wurzelt im dunklen, modrigen Schlamm.

Müssen wir nun befürchten, dass Achtsamkeit in Unternehmen instrumentalisiert wird?

Meine Ausführungen in diesem Beitrag zeigen, dass ich diese Befürchtung nicht hege. Mein Lehrer, Jon Kabat-Zinn, “Vater der modernen Achtsamkeitspraxis”, ist in dieser Frage übrigens ebenfalls ganz entspannt. Als wir dieses Thema erörterten, sagte er einmal sinngemäß zu mir, dass die Achtsamkeitspraxis das schon “glattziehen” würde. Lassen wir die Achtsamkeitspraxis also einfach wirken und vertrauen wir auf ihre innere Weisheit.

© Doris Kirch, 2020


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