“Vor dem Essen beten … gehört das dazu, wenn man Achtsamkeit praktiziert?”, werde ich manchmal gefragt. Ein Essensgebet ist zwar nicht Bestandteil der Achtsamkeitspraxis aber in der buddhistischen Tradition gibt es tatsächlich Reflexionen, die vor den Mahlzeiten rezitiert werden. Im Wesentlichen drücken sie Dank und Verbundenheit aus und sie sind eine schöne Ergänzung der Praxis des achtsamen Essens.

Den Gedanken, vor dem Essen zu beten, bringen die meisten vermutlich mit klerikalen Vorstellungen in Zusammenhang. In der buddhistischen Tradition kennt man die Besinnung vor den Mahlzeiten auch, aber sie haben keinen religiösen Charakter.

Am bekanntesten sind Die fünf Betrachtungen (Gokan no ge) aus der buddhistischen Zen-Tradition, die vor dem Essen rezitiert bzw. gesungen werden.

In der Literatur und im Internet gibt es verschiedene Übersetzungen und Varianten des Gokan no ge, dessen ursprünglicher Text auf den Sōtō-Zen-Meister Dōgen Zenji  zurückgeht.

Die Fünf Betrachtungen

  • Mögen wir an unser eigenes Handeln denken und daran, woher diese Nahrung kommt und wieviel Mühe damit verbunden war.
  • Mögen wir überlegen, ob wir wahrhaft Gutes getan haben, wenn wir diese Nahrung annehmen.
  • Mögen wir Gier, Wut und Verblendung umwandeln, indem wir den eigenen Geist zähmen und uns von Unheilsamem fernhalten.
  • Mögen wir diese Nahrung als gute Medizin für unseren Körper zu uns nehmen.
  • Wir nehmen diese Nahrung an, um den Weg der Weisheit und des Mitgefühls zu gehen.

Vor dem Essen beten mit den Fünf Betrachtungen

Dies ist meine persönliche Version der Essensrezitation. Ich habe sie in die Ich-Form gebracht, weil ich mich dadurch tiefer mit den Inhalten verbunden fühle.

Vor dem Essen beten als Achtsamkeitsmeditation

Wie du vor dem Essen beten kannst, ohne dass andere dich für seltsam halten

Wenn du vor dem Essen beten möchtest, kannst du dich aufrecht hinsetzen, die Hände falten, die Augen schließen und ein ganz heiliges Gesicht machen. In diesem Fall dürfte dir die Aufmerksamkeit deines Umfeldes sicher sein.

Vorausgesetzt, das ist nicht deine Absicht, kannst du das Beten vor dem Essen oder die Rezitation auch ohne viel Brimborium gestalten: Bleib einfach einen kurzen Moment vor deinem Teller sitzen, leg die Hände in den Schoß und lass deinen Blick auf der Mahlzeit vor dir ruhen. So kannst du im Stillen dein Essensgebet sprechen.

Führe das Ritual der Essensrezitation unter Gleichgesinnten ein

Im Stillen für sich selbst ein Essensgebet oder ein Dankesgebet zu sprechen, ist eine feine Sache. Noch mehr “Wumms” kriegt dieses Ritual allerdings, wenn es laut gesprochen wird. Wenn du Freunde hast, die ebenfalls Achtsamkeit praktizieren, kannst du anregen, die gemeinsamen Mahlzeiten immer mit den fünf Betrachtungen zu beginnen.

Eine Dankbarkeit, die tiefer geht

Schaut man sich die fünf Betrachtungen an, erkennt man schnell, dass es im Kern um zwei Aspekte geht: Verbundenheit und Dankbarkeit.

Verbundenheit ist eines der Daseinsmerkmale, die der Buddha beschrieben hat: Nichts entsteht oder besteht aus sich selbst heraus, sondern nur in Abhängigkeit von anderem. Wenn wir das sehen, können wir erkennen, das auch wir selbst in das Netz des Lebens eingewoben sind und von ihm getragen werden.

Wenn wir darüber reflektieren, wie viele Umstände und wie vieler Hände Arbeit nötig war, damit diese Mahlzeit vor uns auf dem Tisch steht, steigt ganz natürlich ein Gefühl von Dankbarkeit in uns auf.

In der altindischen Sprache Pali wird dafür das Wort “Katannuta” verwendet, das in der Bedeutung viel tiefer geht. Katannuta bedeutet “wissen, was getan wurde”. Das bezieht sich sowohl auf das, was wir selbst getan haben, als auch auf das Bewusstsein dafür, was für uns getan wurde.

Dankbarkeit als Gefühlsempfindung ist eine Folge dieses kognitiven Wissens. Ohne zu wissen, was uns durch andere zuteil geworden ist, können wir keine wirkliche Dankbarkeit entwickeln.

Beten Essen Ritual

Vor dem Essen beten zur Achtsamkeitspraxis machen

Egal, ob du ein Essensgebet sprichst oder die fünf Betrachtungen rezitierst: Vor dem Essen einen Moment innezuhalten und dich zu besinnen, wird sich als heilsame Achtsamkeitspraxis für dich erweisen.

Du kannst den hektischen Tun-Modus des Alltagsgeraffels unterbrechen und bewusst in den friedvollen Modus des Seins wechseln. Auf diese Weise wirst du deine Mahlzeit viel mehr genießen, als wenn du sie bewusstlos in dich hineinstopfst.

Auch dein Körper wird es dir danken, wenn du achtsam isst und ausgiebig kaust. Auf diese Weise wird deine kleine Essmeditation zu einem Achtsamkeitsritual das Geist, Seele und Körper gleichermaßen nährt.

© Doris Kirch