Wer tagsüber Stress hatte, entspannt sich abends gerne bei einem guten Tropfen. Aber Vorsicht: Diese “Rotwein-Meditation” ist der Beelzebub der Stressbewältigung, denn sie fördert den inneren Druck mehr als sie ihn senkt.

Das Glas Rotwein: Eine beliebte Abend-Meditation

Ich bin der Mittelpunkt jeder Party. Jedenfalls ab dem Moment, ab dem die übrigen Gäste erfahren, dass ich Achtsamkeitslehrerin bin. Während einige daraufhin eine gesunde Distanz zu mir aufbauen, rücken die meisten etwas näher. Und dann beginnt ein Ritual, das ich jedes Mal belustigt betrachte: Man erklärt mir alles über Achtsamkeit, Stress und Stressbewältigung.

Am häufigsten höre ich folgenden Satz: „Stressbewältigung brauche ich nicht. Ich entspanne mich abends mit einem Gläschen Rotwein vor dem Fernseher.“

Inzwischen habe ich dieser Strategie den Namen Rotwein-Meditation gegeben. Sie ist ganz offenbar der Top-Favorit gestresster Zeitgenossen. Ich bin zwar selbst kein Verächter eines guten Tropfens, dennoch möchte ich dieser beliebten Entspannungsmethode einen Wermutstropfen hinzufügen.

Öl ins Feuer gießen

Während Gaumen und Zunge den Rotwein überaus schätzen, stößt er bei unserer Leber auf wenig Gegenliebe. Die Traditionelle Chinesische Medizin erklärt uns, warum das so ist. Der Leber wird dort eine körperliche und seelische druckausgleichende Funktion zugeordnet.

Wenn wir uns im Leben nicht frei entfalten können, uns unter Druck stehend – also gestresst – erleben, belastet das die Leber; sie „überhitzt“. Rotwein erhitzt dieses Organ ebenfalls.

Die Leber verdaut quasi alles, was wir innerlich und äußerlich aufnehmen: Einerseits unseren psychischen Druck (Stress) und andererseits den Alkohol – somit steht sie sozusagen unter Doppelbeschuss.

Da Alkohol die Muskeln erschlaffen lässt, tritt zunächst ein Entspannungszustand ein, was uns glauben lässt, der gute Tropfen sei eine gute Lösung gegen unseren Stress. Kurzfristig betrachtet ist er das auch – langfristig erweist sich diese Strategie jedoch eher als schädlich.

Betäuben heißt nicht bewältigen

Unabhängig von der körperlichen Wirkung des Rotweins gibt es einen weiteren Grund, weshalb die Rotwein-Meditation kein gutes Entspannungsmittel ist. Es gibt nämlich einen feinen aber bedeutungsvollen Unterschied zwischen kurzfristiger Entspannung und langfristiger Stressbewältigung.

Unserem Stress liegen häufig unbewusste Ansichten, Glaubensmuster und Wertvorstellungen zugrunde. Sie formen unser Bild der Welt, unserer selbst und anderer Menschen. Das bedeutet, wenn wir unseren Stress senken wollen, müssen wir auch an diesen inneren Sichtweisen arbeiten, die sich oft schon jahrzehntelang manifestiert haben.

Wir müssen neue Denk- und Handlungsweisen entwickeln und diese lange genug einüben; erst dann verändern sie unser Verhältnis zu uns und zur Welt und senken dadurch langfristig unseren Stress.

Rotwein verstärkt inneren Stress

Das Glas Rotwein abends auf der Couch vor dem Fernseher hat diesen Effekt nicht. Alkohol hat eine temporäre betäubende, erschlaffende Wirkung. Wer zuvor stark unter Druck stand, findet diesen entspannten Zustand verständlicherweise angenehm. Zudem erleichtert es der Traubensaft am Abend, die Klippen möglicher Einschlafstörungen zu umschiffen.

Die Freude über die scheinbaren Vorzüge des Alkohols erfährt jedoch ein jähes Ende, wenn man erfährt, dass Alkoholkonsum den Stresspegel langfristig sogar noch mehr in die Höhe treibt.

Tipp von der Achtsamkeitslehrerin

Gewöhne dir also besser an, abends vor dem Fernseher einen entspannenden Kräutertee zu trinken und hebe dir den guten Tropfen für einen gemütlichen Abend mit Freunden auf.