Ubuntu: “Ich bin, weil wir sind”, ist eine traditionelle afrikanische Sichtweise des Lebens, bei der die Gemeinschaft im Mittelpunkt steht. In unserem von Individualismus geprägtem Westen können wir viel davon lernen – denn immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir intakte Beziehungen und eine intakte Umwelt brauchen, um uns geborgen und zufrieden zu fühlen. Die Philosophie von Ubuntu trifft hier direkt ins Herz der Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl.

Was ist Ubuntu?

Ubuntu ist eine afrikanische Philosophie der Menschlichkeit. Das Wort stammt aus den afrikanischen Bantusprachen und es hat eine komplexe Bedeutung. Im Deutschen kommt ihm eine Essenz aus den Begriffen Gemeinschaft, Miteinander, Güte, Großzügigkeit, Mitgefühl und Solidarität am nächsten.

Im Kern geht es um die Vorstellung, dass es zwischen uns und anderen Menschen mehr Verbindendes als Trennendes gibt. Ein Individuum wird nicht isoliert gesehen, sondern als Teil eines Lebensgeflechtes aus Umwelt, Gesellschaft und Beziehungen betrachtet. Diese Grundhaltung bezieht sich auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung.

Erzbischoff Desmond Tutu erklärt “Ubuntu”

Die Popularität dieser afrikanischen Werte-Philosophie haben wir vor allem dem Friedensnobelpreisträger Bischoff Desmond Tutu zu verdanken. In seinem Buch Keine Zukunft ohne Versöhnung schreibt er:

“Ein Mensch mit Ubuntu ist offen und zugänglich für andere, fühlt sich durch andere bestätigt und nicht bedroht, sondern weiß um die Fähigkeiten und Güte anderer. Er (…) besitzt eine ausgeprägte Selbstsicherheit, die von dem Wissen herrührt, dass er (…) einem größeren Ganzen angehört.

Tutu sagte, er träume von einer neuen Welt und einer reifen Menschheit, die lebt, was Ubuntu meint. Er ermunterte uns, unser ganzes Potenzial zu leben – aber auch das Potenzial der anderen zu erkennen und das Wunder unserer Vielfalt zu feiern.

Ubuntu - Ich bin, weil wir sind

Wir vor Ich

Die Herkunft der folgenden kleinen Geschichte ist unklar – aber sie illustriert treffend, worum es bei der afrikanischen Philosophie vom Wir geht:

Ein westlicher Anthropologe lud die Kinder eines afrikanischen Stammes zu einem Wettlauf ein. Er stellte einen Korb mit Obst unter einen etwas weiter entfernten Baum und sagte, wer als Erster am Baum angekommen sei, würde den Obstkorb gewinnen. Nachdem er das Startsignal gegeben hatte, fassten die Kinder sich an den Händen und liefen zusammen los. Am Baum angekommen, aßen sie die Früchte gemeinsam auf. Der Wissenschaftler fragte die Kinder, warum sie nicht einzeln gelaufen seien, jeder hätte doch die Chance gehabt, alles Obst für sich zu behalten. Die Kinder antworteten: “Ubuntu: Wie könnte einer von uns froh sein, wenn die anderen traurig sind.

Ist das Prinzip übertragbar und passt es in unsere Zeit?

Ubuntu ist eine alte Tradition und Afrika ist nicht Europa. Kann diese traditionelle Sichtweise auf das Leben in unserem europäischen Alltag übertragen werden? Und ist sie überhaupt zeitgemäß?

Ich denke schon, denn meiner Ansicht nach ist Ubuntu keine “Theorie”. Es ist vielmehr eine zeitlose universelle Weisheit; damit hat sie jederzeit und überall Gültigkeit.

Weil Ubuntu alle Menschen unabhängig von Rasse und Status respektiert, passt es gut zur globalen Idee eines Weltbürgertums. In unserer westlichen über-individualisierten Gesellschaft könnten wir von einer Ausgewogenheit zwischen Eigeninteresse und Gemeinsinn nur profitieren.

Auf dem Rücken von Giganten

Das ganze Bild zu sehen, statt nur bis ans Ende unserer Nasenspitze zu schauen, könnte auch unsere egomanische und irrealistische Sichtweise heilen, Erfolge alleine erreicht zu haben. Wer wir sind und was wir haben, ist das Resultat eines komplexen Zusammenwirkens von unzähligen Menschen und Umständen.

Bereits der Wissenschaftler Isaac Newton hatte das erkannt und es in seinem legendären Ausspruch zum Ausdruck gebracht: “Wenn ich weiter als andere gesehen habe, dann nur deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand.”

Im übrigen war der Wert von Gemeinschaft, Mitgefühl, Respekt und Fürsorge für einander schon immer ein zentrales Konzept in allen Weltreligionen und spirituellen Traditionen  – was seine Zeitlosigkeit und Universalität bezeugt.

Ubuntu und Achtsamkeit

Kritik an Ubuntu

Verschiedentlich wird die afrikanische Lebensphilosophie vom Wir missgedeutet, indem ihr jegliche Form von Individualismus abgesprochen wird. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die Gemeinschaft wird als Fundament gesehen, auf dem der Einzelne sich entwickeln kann.

Er hat sein eigenes Wohl ebenso im Fokus, wie das der Gesellschaft und er ist bestrebt, beides in Einklang zu bringen. Auch wenn er seine eigene Persönlichkeit entwickelt und seine individuellen Ziele verfolgt, vergisst er dabei nicht seine Verantwortung für andere Wesen und die Umwelt.

Zur Selbstverwirklichung gehört das Bedürfnis, mit anderen zu teilen und sich zum sie zu kümmern. Der Einzelne verfolgt sozusagen sein eigenes Wohl, indem er das Gemeinwohl pflegt.

Unterschiedliches “Wir”-Verständnis

Europäer kritisieren Ubuntu bisweilen, weil sie es nicht richtig verstehen. Und sie verstehen es nicht, weil das “Wir”-Verständnis verschieden ist. Anders als in Afrika steht bei uns die Individualität an erster Stelle und wir schließen uns mit anderen zusammen, wenn wir ein bestimmtes Ziel alleine nicht erreichen können.

In der speziellen afrikanischen Tradition ist eine Gemeinschaft mehr als eine Summe von Individuen; sie wird als ein Organismus verstanden. Diese Sichtweise geht mit einem hohen Verantwortungsgefühl für andere einher.

Wie Ubuntu Achtsamkeit und Mitgefühl fördert

Ubuntu soll Personen darin fördern ihr Herz zu öffnen und es mit anderen zu teilen. Das bedeutet nicht, dass man nicht mehr an sich selbst denken darf, denn das gehört auch zum Wohlbefinden eines Menschen dazu. Vielmehr soll man Selbstliebe und die Liebe zu anderen in ein gesundes Verhältnis bringen.

Ubuntu-Philosophie aus Afrika

Unbuntu: Die Lehre der Menschlichkeit

Beim Ubuntu steht die Menschlichkeit im Mittelpunkt. Der afrikanische Lehrer und Geisteswissenschaftler Louis Zulu beschreibt, was passiert, wenn ein Dorfbewohner nur an die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse denkt. Wenn eine Person zum Beispiel Essen hat und es nicht mit Armen, Waisen, Witwen, Behinderten und Kranken teilt, kann es passieren, dass sie als “Hexe” oder “Zauberer” bezeichnet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wird.

Louis Zulu: Ein afrikanisches Konzept des guten Lebens →

Das eigene Menschsein ist an die gesamte Menschheit geknüpft. Es heißt: “Ein Mensch wird Mensch nur durch andere Menschen”. Erst durch die Beziehungen zu anderen, kann ein Mensch das Potenzial seines Selbst entfalten.

Parallele zur psychoanalytischen Theorie der Individuation

Diese Sichtweise hat eine interessante Parallele zur Theorie der “Individuation” (Menschwerdung) des Psychoanalytikers Carl Gustav Jung. Jung beschrieb den Individuationsprozess sowohl als einen internen Integrationsvorgang wie auch als einen interpersonellen Beziehungsvorgang. Er sagte, die Beziehung zum Selbst sei zugleich eine Beziehung zum Mitmenschen. Auch die Idee der Individuation zielt darauf ab, einen Menschen gemeinschaftsfähiger zu machen.

Ubuntu im Alltag

Professor James Ogude von der University of Pretoria betont nicht nur das soziale Bewusstsein, sondern auch die Verantwortung, die damit verbunden ist. Verantwortung für andere Menschen und gleichermaßen Verantwortung für die Umwelt.

Hier finden wir eine deutliche Parallele zur Achtsamkeit. Wer die buddhistische Achtsamkeitspraxis verstanden hat, weiß, dass sie sich nicht auf das Meditieren beschränkt, sondern dass sie soziales Handeln einschließt.

Sowohl bei Ubuntu, wie auch bei der Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl geht es um einen achtsamen Umgang mit allen Lebewesen und mit unserem Umfeld. Denn wir als menschliche Individuen sind ein Teil des Lebensnetzes und damit in wechselseitiger Beziehung mit unserer Umwelt verbunden.

Humanitäre Werte von Kleinkind an lernen

“Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf”, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Auch hier wirkt Gemeinschaft heilsam, und jedes Kind wächst im Wissen um Spiritualität und die Weltanschauung von Ubuntu auf. So lernen Kinder früh, sich nicht auf zwei Eltern als Bezugspersonen zu fixieren. Sollte ein Elternteil oder beide wegbrechen, fallen die Kinder nicht ins Bodenlose. Sie sind nach wie vor geborgen mitten im Menschsein einer ganzen Gemeinschaft.

Was ist Ubuntu?

Achtsamkeit und Ubuntu: Geschwister im Geiste wie im Herzen

Ubuntu wird von manchen Wissenschaftlern als “Ideologie” bezeichnet. Mir ist das unbehaglich, denn Ideologien haben oft negative Assoziationen im Schlepptau, falsches Verständnis, verklärte Naivität oder irreführenden Optimismus.

Aber wie man dieses afrikanische Konzept auch bezeichnet, es ist lohnenswert, sich damit auseinanderzusetzen und danach zu streben. Alles was wir tun, hat Fern- und Nebenwirkungen für andere Menschen und für das Leben auf unserem Planeten.

Verstehen, was Gemeinschaft wirklich bedeutet

Alles, was lebt, ist in wechselseitiger Interdependenz miteinander verbunden. Der Zustand der Welt zeigt uns, dass wir bislang nicht richtig verstanden haben, was das eigentlich bedeutet.

Offenbar brauchen wir mehr moralische Orientierung, um uns in einer Weise zu verhalten, die nicht nur dem einzelnen, sondern der ganzen menschlichen Gemeinschaft nutzt.

Achtsamkeit und Ubuntu gehen hier Hand in Hand, denn die Praxis der Achtsamkeit gibt uns ein Bewusstsein dafür, welche Konsequenzen unser Verhalten und unser Handeln haben.

© Doris Kirch, 2023