Das Wunderbare an der Achtsamkeitspraxis ist, dass sie vor unserem gewöhnlichen Leben nicht Halt macht. Im Gegenteil: Sie hilft uns dabei, unsere Beziehungen zu anderen zu erforschen und uns aus unheilsamen unbewussten Reaktionen und Verhaltensmustern zu befreien.

Konditionierte Verhaltensweisen im Eltern-Kind-Verhältnis

Gestern gab es einen Anlass, sich diesem Thema einmal wieder zuzuwenden, denn meine Mutter kommt heute zu Besuch.

Da wir nicht in der gleichen Stadt wohnen, bleibt sie einige Tage. Als ich im Garten Rasen mähte und Unkraut jätete, kam eine Freundin vorbei, krempelte kurzentschlossen die Ärmel hoch und packte mit an. Ich erzählte, dass meine Mutter zu Besuch kommt und sie sagte nachdenklich, wie erstaunlich es sei, dass unsere Mutter-Tochter-Rollen uns auch heute noch mit über fünfzig so fest im Griff hätten.

Sie wurde noch nachdenklicher, als ich ihr erklärte, dass meine Aktivitäten im Garten zwar tatsächlich etwas mit meiner Mutter zu tun haben, aber auf eine andere Weise, als sie glaube.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nie in meinem Leben aus Furcht vor den vermeintlich wachsamen Augen meiner Mutter die Wohnung geputzt hätte. Aber in Laufe meiner Achtsamkeitspraxis habe ich es mir zur Angewohnheit gemacht, meine Intentionen zu hinterfragen, bevor ich etwas tue. So auch in diesem Fall.

Achtsam beobachten: Warum tue ich, was ich tue?

Intentionen, die wir verspüren, sind immer von angenehmen oder unangenehmen Gefühlen begleitet.

Ich merkte also, dass es sich nicht gut anfühlte, die Wohnung wegen meiner Mutter zu putzen. Also hörte ich damit auf, erforschte dieses Unterlassen achtsam. Die Wohnung nicht zu putzen, fühlte sich ebenfalls nicht gut an.

Also untersuchte ich dieses Sich-nicht-Gut-Anfühlen und das brachte unerwartet ganz warme Gefühle in mir hervor. Mir fiel plötzlich ein, was für eine gute Mutter meine Mutter ist (und immer war) und wie viel ich ihr zu verdanken habe. Und plötzlich war da die Motivation von Dankbarkeit, Liebe und Freude.

Meine Mutter ist ein echter Schöngeist; sie mag Kunst und Natur und ich wusste, sie wird sich an der Schönheit von Haus und Garten erfreuen. Ich wollte ihr gerne diese Freude machen. Und mir wurde plötzlich auch bewusst, dass ich in Wirklichkeit nie das Gefühl hatte, sie würde bei mir Sauberkeit und Ordnung erwarten. Diese Annahme war Teil eines unbewussten Musters in mir, das sich in der achtsamen und vorurteilsfreien Betrachtung als unrealistisch erwies.

Solche Erkenntnisse können enorm befreiend sein. Ich sitze hier und schreibe diese Zeilen, während der Abwasch noch unerledigt ist. Die Zeit bis ich meine Mutter vom Bus abhole, wird knapp. Vielleicht schaffe ich den Abwasch nicht mehr. Dann ist das eben so.

Durch eine achtsame Haltung können alte Wunden heilen

Achtsamkeit bedeutet, wahrzunehmen was passiert, während es passiert. Und das Wesentliche dabei ist, uns der Erfahrung des gegenwärtigen Moments in einer vorurteilsfreien inneren Haltung anzunähern. Dadurch entsteht mehr Raum, in welchem wir die Dinge in einem anderen Licht betrachten können.

In einem ungeübten Gehirn ist der gegenwärtige Moment vorbei, bevor er erfasst werden kann. Unbemerkt rutscht man in ein Verhaltensmuster hinein und arbeitet, versunken im Autopilotmodus, sein gewohntes Programm ab.

Ein achtsames Gehirn kann man trainieren, wie einen Muskel. Das erfordert anfangs eine gewisse Anstrengung, aber die Mühe lohnt sich, weil wir dadurch mehr Weite und Freiheit in unserem Leben erlangen.

Diesen Beitrag widme ich in töchterlicher Liebe meiner Mutter, Heidegard Müller.